Zwischen 1943 und 1944 müssen hunderte jüdische Männer Zwangsarbeit auf einer Baustelle in Karya – einer kleinen Bahnstation in Mittelgriechenland – leisten. Dass dies bekannt wird, ist Andreas Assael zu verdanken, einem Forscher, Sammler und Sohn eines jüdischen Überlebenden aus Thessaloniki. Er entdeckt 2002 ein Fotoalbum aus der Kriegszeit – darin Fotos jüdischer Zwangsarbeiter in Karya. Die Forschungen, die er daraufhin anstellt, sind die Grundlage der Ausstellung Karya 1943 und dieser Webseite.
Die Fotos zeigen Bauarbeiten an Brücken und Bahnstrecken sowie touristische Aufnahmen von Sehenswürdigkeiten. Von den insgesamt 498 Fotos betreffen etwa 80 die Zwangsarbeit in Karya. Die ursprüngliche Anordnung der Albumblätter ist nicht bekannt. Andreas Assael bringt sie in eine für ihn chronologisch und historisch sinnvolle Reihenfolge, nummeriert die Fotos und Albumseiten und fügt ein Titelblatt hinzu. Durch seine Recherchen wird klar: Der Fotograf ist ein Angehöriger der paramilitärischen Organisation Todt (OT).
Die meisten Fotos hat der Bauingenieur Hanns Rössler gemacht. Rössler – 1905 in Nürnberg geboren – ist seit 1930 NSDAP-Mitglied. Im Krieg ist er auf dem Balkan stationiert und seit 1942 an verschiedenen Orten in Griechenland für die Organisation Todt (OT) als Leiter von Baustellen tätig, darunter in Karya. Nach dem Krieg ist Rössler bei der Fränkischen Überlandwerk AG (heute N-Ergie AG) beschäftigt, einem regionalen Stromversorger. Bis zu seinem Tod 1995 lebt er mit seiner Frau in einem Reihenhaus in Roth.
Fotos sind eine wichtige Quelle für die Überlieferung historischer Ereignisse. Aber: Fotos zeigen immer nur einen Ausschnitt der abgebildeten Situation. Manche werden bewusst inszeniert, um einen gewünschten Eindruck zu vermitteln. Eine genaue Betrachtung ist deswegen wichtig. Aber auch eine Einordnung in die Entstehungsbedingungen: Wer macht die Fotos? Welche Absicht hat der Fotograf? Wann und wo wurden sie gemacht? Zu welchem Zweck?
Die Organisation Todt, ein paramilitärischer Bautrupp, richtet am Bahnhof Karya 1943 eine Baustelle und ein Zwangsarbeitslager ein. Zu sehen ist der Bahntunnel in Richtung Thessaloniki und der alte Bahnhof mit dem Bahnwärterhaus der griechischen Eisenbahnen.
Im April 1943 kommen etwa 150 jüdische Zwangsarbeiter aus dem Ghetto Thessaloniki an. Sie werden zu den Unterkunftsbaracken geführt. Nach dem Krieg wird der Bahnsteig verlegt und dort ein weiteres Ausweichgleis angelegt.
Die Bahnstrecke Thessaloniki – Athen führt über Karya und ist eingleisig. Damit entgegenkommende Züge passieren können, soll die Strecke ausgebaut werden.
Dieses Steingebäude der griechischen Eisenbahngesellschaft nutzt 1943 auch die Wehrmacht und die paramilitärische Organisation Todt während der Bauarbeiten. Links der Bahnstrecke parkt ein Zug. Dieses Ausweichgleis wird um mehrere Hundert Meter verlängert. Dazu muss ein Einschnitt in den Felsen gehauen werden.
Die Organisation Todt errichtet eine Arbeitsbaracke mit Büros und Küche, davor ist das Bauschild zu sehen. Aufschrift: „Organisation Todt – Fronteinsatz Südost – Einheit Überland“. Private deutsche und österreichische Firmen führen den Bau aus.
Das Ausweichgleis (links) bauen jüdische Zwangsarbeiter 1943 aus und verlängern es.
In diesen Unterkunftsbaracken sind die jüdischen Zwangsarbeiter untergebracht. Die Hygiene-Verhältnisse sind katastrophal, es ist eng, es gibt kaum Wasser.
Karya ist eine kleine Bahnstation in Mittelgriechenland, erbaut 1906/07. 1943 planen die Deutschen in Karya ein Ausweichgleis. Denn die eingleisige Strecke ist überlastet und wird daher ausgebaut. 300 bis 500 jüdische Männer aus Thessaloniki müssen hierfür Zwangsarbeit leisten.
Die Bahnstrecke Athen – Thessaloniki – Belgrad, an der sich Karya befindet, ist für die deutschen Besatzer die wichtigste Verbindung für Transporte von Truppen und Versorgungsgütern. Die Strecke wird daher auch oft von Partisaneneinheiten angegriffen, um die Besatzer zu schwächen. Die Wehrmacht baut das griechische Eisenbahnnetz – dazu gehört Karya – daher aus und beseitigt Sabotageschäden.
Der Bauingenieur Rössler plant das Ausweichgleis. Dazu muss ein tiefer Einschnitt von etwa 20 Metern Tiefe und 100 Metern Länge in einen felsigen Berghang geschlagen werden. So können auf der eingleisigen Bahnstrecke entgegenkommende Züge passieren und mehr Fahrten gleichzeitig erfolgen.
Den Ausbau übernimmt die Organisation Todt (OT). Sie ist die paramilitärische Bautruppe Nazi-Deutschlands und führt während des Zweiten Weltkriegs alle militärisch wichtigen Bauprojekte durch. Bei ihren Vorhaben stützt sich die OT auf private deutsche und österreichische Firmen, die nichtjüdische und jüdische Zwangsarbeiter einsetzen. Die 1928 in Wien gegründete »Überland Hoch-, Tief-, und Straßenbau AG«, eine Tochterfirma der Münchner Firma Leonhard Moll ist eine von ihnen.
Auf den Baustellen in Mittelgriechenland setzt die OT jüdische wie nichtjüdische Zwangsarbeiter ein. Sie müssen Verkehrswege ausbauen und Sabotageschäden beseitigen. Als immer mehr Arbeitskräfte benötigt werden, fordert die OT im März 1943 3.000 jüdische Zwangsarbeiter aus Thessaloniki an. Die SS nimmt daraufhin hunderte jüdische Männer fest und verschleppt sie in die Zwangsarbeitslager von Thiva, Lianokladi und Karya. In Thiva und Lianokladi arbeiten auch nichtjüdische Zwangsarbeiter. Die jüdischen Zwangsarbeiter werden wesentlich schlechter behandelt.
Nach Karya werden Ende März und am 20. April 1943 ausschließlich jüdische Männer verschleppt, insgesamt 300 bis 500. Um die Baustelle an dem weit abgelegenen Ort betreiben zu können, errichtet die OT dort ein Lager: Am Bahnhof für Zugreisende werden zwei Baracken mit Büros und Küche für OT- und Wehrmachtsangehörige gebaut sowie zwei Unterkunftsbaracken für die Zwangsarbeiter. Während der Zwangsarbeit läuft der Bahnverkehr weiter, so dass Fahrgäste die Baustelle und die jüdischen Arbeiter sehen.
Die historischen Fotos dokumentieren die Ankunft der verschleppten Männer aus Thessaloniki. Doch sie zeigen nur den Blick der deutschen Täter. In Nachkriegsinterviews beschreiben die Überlebenden ihren Schrecken bei Ankunft in Karya und die furchtbaren Lebensumstände dort. Die Graphic Novel versucht, ihre Perspektive abzubilden.
In Bezug auf die Überlieferung historischer Ereignisse gibt es ein Ungleichgewicht: Fotografiert haben meist nur die Täter. Bei der Erarbeitung der Ausstellung war daher die Frage zentral: Wie können wir die Perspektive der jüdischen Zwangsarbeiter und ihre Erfahrungen stärker abbilden? Mittels Illustrationen und Graphic Novel-Elementen wird sichtbar gemacht, wozu es kein Bildmaterial gibt.
Die OT will das Ausweichgleis in Karya so schnell wie möglich fertigstellen und geht dabei rücksichtslos vor: OT-Angehörige und Aufseher treiben die jüdischen Zwangsarbeiter zu harter Arbeit an. In 12-Stundenschichten müssen sie mit Hacken und Schaufeln den Felsen abtragen. Brutale Vorarbeiter und Aufseher prügeln auf sie ein. Sie erhalten wenig Wasser und kaum Nahrung – die noch dazu nicht selten verdorben ist. Die Männer magern innerhalb weniger Wochen ab. Wer erschöpft zusammenbricht, den erschießen die OT-Männer.
Mindestens zehn jüdische Zwangsarbeiter können von der Baustelle in Karya fliehen. Die meisten schließen sich Widerstandsgruppen in der Umgebung an und kämpfen gegen die deutschen Besatzer. Sam Nachmias kann mit Hilfe einer mutigen Familie in Lamia überleben. Über die Geschehnisse in Karya können nur diejenigen berichten, die sich überleben konnten. Ihre Zeugnisse sind heute eine wichtige Quelle.
Anfang August 1943 löst die OT die Baustelle in Karya auf. Die überlebenden Zwangsarbeiter werden nach Thessaloniki zurückgebracht. Am 10. August 1943 transportiert die SS sie nach Auschwitz. Die meisten Männer sind abgemagert und krank. Sie werden kurz nach der Ankunft ermordet. 271 der Verschleppten weist die SS jedoch ins Arbeitslager ein. Im Oktober 1943 werden jüdische KZ-Häftlinge aus Thessaloniki von dort aus in andere Konzentrationslager verschleppt, darunter Überlebende von Karya.
Mit dem Angriff der deutschen Wehrmacht auf Polen im September 1939 beginnt der Zweite Weltkrieg. Am 28. Oktober 1940 überfällt Italien – der Bündnispartner Nazideutschlands – Griechenland. Italien, Deutschland und das verbündete Bulgarien erobern das griechische Festland bis Ende April 1941. Ab 1941 teilen sie Griechenland in Besatzungszonen auf. Die deutsch besetzten Teile stehen unter Militärverwaltung, die mit einer griechischen Kollaborationsregierung zusammenarbeitet.
Bei der Aufteilung Griechenlands überlässt Deutschland große Teile den italienischen und bulgarischen Besatzern, behält aber kriegswichtige Gebiete. Karya liegt an der Bahnstrecke Thessaloniki – Athen; diese führt zum großen Teil durch italienisches Besatzungsgebiet. Die Deutschen stellen jedoch das gesamte Eisenbahnnetz und wichtige Häfen unter ihre Kontrolle. So wollen sie Bodenschätze und Erzeugnisse, die sie für die Kriegsproduktion benötigen, möglichst reibungslos nach Deutschland schaffen.
Die deutsche Besatzung in Griechenland ist besonders brutal: Die Wehrmacht plündert das Land rücksichtslos aus. Die Wirtschaft bricht zusammen und hunderttausende Griech:innen sterben an den Folgen einer Hungersnot. Gegen die Besatzung formiert sich Widerstand. Die beiden größten Gruppen sind die kommunistische ELAS und die national-republikanische EDES. Ab Herbst 1942 kontrollieren die Partisan:innen weite Gebiete in den Bergen Mittelgriechenlands. Die Besatzer gehen hart gegen Widerstandskämpfer:innen vor. Sie nehmen Zivilist:innen als Geiseln und erschießen sie. Hunderte von Ortschaften werden als Repressionsmaßnahme niedergebrannt.
Mehr als Hunderttausend nichtjüdische und jüdische Griech:innen müssen Zwangsarbeit leisten. Am 30. Januar 1943 führen die Deutschen eine Arbeitspflicht für Männer zwischen 18 und 50 Jahren in allen Besatzungszonen Griechenlands ein. Nach Aufrufen von Widerstandsgruppen im Februar und April 1943 protestieren dagegen Tausende in den großen Städten. Die Verordnung wird zurückgezogen. Jedoch führen die Deutschen nun Razzien durch, bringen zehntausende Festgenommene in Haftlager in Griechenland und verschleppen sie dann zur Zwangsarbeit, auch in Konzentrationslager in Nazideutschland.
Die Stadt Thessaloniki ist ein wichtiges religiöses und kulturelles Zentrum des europäischen Judentums. Sie gehört bis 1912 zum Osmanischen Reich. Um 1900 ist die Hälfte der Bevölkerung Thessalonikis jüdisch. Die meisten Juden und Jüdinnen dort sind Sephardim: Ihre Vorfahren waren um 1500 aus Spanien und Portugal vertrieben worden. Über Generationen bewahren sie sich ihre Sprache Judäo-Spanisch (Ladino) und ihre Bräuche. Nach Auswanderungswellen leben 1940 noch etwa 50.000 Jüdinnen und Juden in Thessaloniki. Bereits unmittelbar nach der Aufteilung Griechenlands – ab Mai 1941 – beginnen die Deutschen mit der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung.
Die jüdische Bevölkerung Thessalonikis ist als erste von den deutschen Verfolgungsmaßnahmen betroffen. Die Deutschen schließen jüdische Zeitungsredaktionen, plündern Kunstschätze der jüdischen Gemeinden und schüren unter den christlichen Griech:innen Judenhass, indem sie die jüdische Bevölkerung für die Hungersnot verantwortlich machen. Ende 1942 wird der jahrhundertealte jüdische Friedhof vollständig abgerissen.
Die Wehrmacht in Thessaloniki will jüdische Männer zur Zwangsarbeit heranziehen. Sie versammelt hierfür über 9.000 von ihnen im Alter zwischen 18 und 45 Jahren an einem Samstag (am jüdischen Feiertag Sabbat) am 11. Juli 1942 auf dem zentralen Freiheitsplatz. Dort müssen sie stundenlang in der Sonne stehen, werden verhöhnt und von deutschen Soldaten und Kollaborateuren geschlagen. Einige Wochen später werden 3.500 von ihnen zur Zwangsarbeit in verschiedene Orte Nordgriechenlands verschleppt.
Die Deutschen verhängen eine Ausgangssperre für Jüdinnen und Juden, zwingen sie, gelbe Sterne zu tragen, und richten 1943 Ghettobezirke ein. Im Wohnviertel »Baron Hirsch« in Bahnhofsnähe entsteht so ein Durchgangslager. Ab März 1943 beginnen von hier die Transporte in das deutsche Vernichtungslager Auschwitz. Zugleich werden mindestens 1.500 Männer zur Zwangsarbeit verschleppt, unter anderem zum Bahnhof in Karya.
Mit 19 Transporten werden zwischen dem 15. März und August 1943 fast 46.000 jüdische Kinder, Frauen und Männer von Thessaloniki nach Auschwitz verschleppt. Die Fahrt dauert mindestens fünf Tage. Sofort nach ihrer Ankunft ermordet die SS die meisten von ihnen in Gaskammern. Weitere kommen durch Zwangsarbeit, Gewalt, Krankheiten und Unterernährung ums Leben. 1944 folgen Transporte aus dem übrigen Griechenland. Insgesamt werden fast 60.000 griechische Juden und Jüdinnen in die Vernichtungslager deportiert und ermordet.
Im Oktober 1944 zieht die Wehrmacht aus Griechenland ab. Als Folge der gezielten Zerstörung von Häusern, Ortschaften und Verkehrswegen sowie des Raubs griechischer Bodenschätze und Handelsgüter ist die wirtschaftliche Lage danach verheerend. Zehntausende Griech:innen leiden an Unterernährung und Infektionskrankheiten. Zudem folgen im Dezember 1944 neue Kämpfe: Die Briten unterstützten die aus dem Exil zurückgekehrte griechische Regierung bei ihrem Vorhaben, die Partisanenarmee ELAS zu besiegen.
Nur rund 10.000 griechische Jüdinnen und Juden überleben den Holocaust. Unter den traumatischen Erlebnissen der Verfolgung leiden die Überlebenden meist ihr Leben lang. Der Aufbau von Synagogen, Geschäften und Wohnungen gelingt häufig nur mit internationaler Hilfe wie durch das American Joint Distribution Committee. Aufgrund materieller Not, aber auch der judenfeindlichen Stimmung wandern bis Anfang der 1950er Jahre etwa 5.000 der Überlebende nach Palästina (ab 1948 Israel) und in die USA aus.
1946 wird in Griechenland die Monarchie wiederhergestellt. Im selben Jahr beginnt die kommunistische Demokratische Armee Griechenlands (DSE) einen Guerillakrieg gegen sie. Auch jüdische Männer müssen in der griechischen Regierungsarmee gegen die DSE-Guerillas kämpfen. Der Krieg endet 1949 mit der Niederlage der Linken. Kommunist:innen werden verfolgt, darunter auch Mehr als 50.000 Griech:innen kommen im Bürgerkrieg ums Leben. Juden, die mithilfe von kommunistischen Widerstandsgruppen überlebten. Anfang der 1950er Jahre schiebt Griechenland die letzten dieser jüdischen politischen Häftlinge nach Israel ab.
Die traumatische Erfahrung der deutschen Besatzung für die gesamte Bevölkerung Griechenlands überlagert die Erinnerung an die knapp 60.000 jüdischen Opfer des Holocaust jahrzehntelang. Griechenland handelt mit Westdeutschland 1960 eine Entschädigungszahlung von 115 Millionen DM aus. Anspruchsberechtigt sind alle griechischen NS-Opfer. Trotzdem ein Drittel Jüdinnen und Juden sind, erhalten diese nicht einmal 10 Prozent der Gelder. Nur die wenigen Überlebenden, die eine griechische Staatsbürgerschaft besitzen, können überhaupt Anträge stellen. Verhandlungen zwischen Griechenland und der BRD über die Rückerstattung des geraubten jüdischen Eigentums bleiben ergebnislos.
1945 untersucht die Gemeinde Thessaloniki Vorwürfe gegen einen früheren Lagerdolmetscher von Karya, der wie andere jüdische Funktionshäftlinge, als »Verräter« beschuldigt wird. Bis heute erinnert in Karya kein Denkmal an die Zwangsarbeiter.
1952 erhält die jüdische Gemeinde in Thessaloniki erstmals einen Hinweis auf ein Massengrab mit ermordeten jüdischen Zwangsarbeitern in »Karya bei Thiva«. Die Gemeinde will die Opfer ordentlich bestatten. Die ungenaue Ortsangabe erschwert die Suche. Die Behörden unterstützen das Vorhaben nicht.
An die Zwangsarbeit der jüdischen Bevölkerung für die Besatzer wird kaum erinnert. Erst im Oktober 1988 errichtet die Jüdische Gemeinde von Thessaloniki eine Gedenktafel auf dem Bahnsteig in Lianokladi, einem Ort der Zwangsarbeit. Das Denkmal wird 20 Jahre später aus bislang unbekannten Gründen entfernt. Auf Initiative der Gemeinde wird 2021 ein zweites Denkmal eingeweiht, das einige Monate später von Unbekannten zerstört und danach abgebaut wird.
Andreas Assael wird 1959 in Thessaloniki geboren und geht dort auf eine deutsche Schule. Die Familie seines Vaters gehört zu den wenigen, die in Thessaloniki versteckt den Holocaust überlebt haben. Seit langem sammelt und forscht Andreas Assael zu seiner Familiengeschichte und zum Holocaust. In den 1980er Jahren hat er in München studiert und besucht die Stadt seitdem regelmäßig. Auf dem nahegelegenen Antiquitätenmarkt in Keferloh entdeckt er 2002 das Fotoalbum.
Die Fotos zeigen Männer in deutschen Uniformen an verschiedenen Orten in Griechenland, offensichtlich während der deutschen Besatzung. Dies allein ist nicht ungewöhnlich. Es gibt zahlreiche solcher Alben von Wehrmachtssoldaten aus der Kriegszeit. Doch Assael erkennt anhand winziger „Judensterne“, dass in dem Album auch jüdische Männer abgebildet sind. Eine Sensation: Es sind bislang die einzigen bekannten Fotos mit griechisch-jüdischen Zwangsarbeitern aus dem Jahr 1943.
Die Beschriftung „Karia“ gibt einen Hinweis auf den Einsatzort der Zwangsarbeiter. Andreas Assael gelingt es, den Ort zu identifizieren. Minutiös erschließt er die Topographie der Baustelle und bringt die Fotos in eine zeitliche Abfolge. Er macht Überlebende ausfindig und interviewt sie. 2004 sucht er die deutsche Baufirma „Leonhard Moll“ in München auf und identifiziert den Fotografen. Seine Erkenntnisse hält er in einem Manuskript fest.
2017 wendet sich Andreas Assael an den deutschen Generalkonsul in Thessaloniki. Bald darauf ist der Kontakt zur Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und zum Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit hergestellt. Auf Einladung der beiden Einrichtungen berichtet er erstmals am 24. Januar 2019 in Deutschland öffentlich über seine Erkenntnisse. Es beginnt ein mehrjähriges Projekt zur Geschichte Karyas. Während der Projektlaufzeit trifft Andreas Assael Schüler:innen und Studierende und berichtet von seinen Recherchen.
Die Universität Osnabrück ist Kooperationspartner des Projekts. Ein Team aus Wissenschaftler:innen und Studierenden der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Konfliktlandschaften (IAK) untersucht im April 2023 den Bereich der historischen Baustelle. Auch Studierende der Universität Thessaloniki sind daran beteiligt.
Ziel der Geländeuntersuchung ist es, die Baustelle von 1943 zu dokumentieren und Spuren der Zwangsarbeit zu finden. Zudem wird nach materiellen Hinterlassenschaften und Gegenständen gesucht, die Hinweise auf die Lebensbedingungen der jüdischen Zwangsarbeiter geben können. Zeitzeugen aus der Gegend vermuten eine Grabstätte nahe des Haltepunkts und der ehemaligen Baustelle. Dieses Areal wird genauer untersucht.
Die Wissenschaftler:innen führen eine sogenannte geoarchäologische Prospektion durch: Das Gelände wird mit einer Drohne und einem GPS-Gerät genau vermessen. Teilbereiche werden mit einem magnetischen Gradiometer geophysikalisch erkundet. Um diese Messungen zu überprüfen, werden bodenkundliche Bohrungen vorgenommen. Einige markante und wichtige Orte der Baustelle werden auch mittels Laserscan vermessen und mit einer Drohne fotografisch dokumentiert.
Die Untersuchungen bestätigen: Die Zwangsarbeiter mussten einen Einschnitt von etwa 20 Metern Tiefe und 100 Metern Länge in den Berg hauen. Innerhalb weniger Monate mussten sie dafür schier unvorstellbare Erdmassen abtragen: insgesamt ca. 24.000 Kubikmeter Gestein.
Für die vermutete Grabstätte können die Untersuchungen keine Belege liefern. Doch Tote können auch an anderer Stelle verschüttet oder verscharrt worden sein. Weitere Untersuchungen sind notwendig, um die Ereignisse in Karya zu klären.
Im Bereich der Standorte der Unterkunftsbaracken für die Zwangsarbeiter werden bei Oberflächenuntersuchungen 96 Bodenfunde geborgen: unter anderem Nägel, zwei Lorenschwellen, zwei historische Patronenhülsen und ein Perlmuttknopf. Sie geben Hinweise auf die Lebensumstände der Männer. Der Nagel beispielsweise stammt von den Baracken für die Zwangsarbeiter. Viele aufgefundene Nägel sind gebogen. Vielleicht wurden sie genutzt um Kleidung aufzuhängen oder Fenster festzustellen.
Diese Schwellen und Schrauben sind der Kleinbahn (Lorenbahn) von 1943 zuzuordnen. Die historischen Fotos zeigen, wie die Zwangsarbeiter die Loren nutzen, um das aus dem Fels geschlagene Gestein abzutransportieren. Die Schwellen tragen die eigentlichen Schienen und verteilen das Gewicht der schwer beladenen Loren gleichmäßig auf den Untergrund. Die Zwangsarbeiter müssen das Lorengleis im Hangeinschnitts nach Fertigstellung eines Bauabschnitts zum nächsten Abschnitt verlegen. Noch heute sind die ehemaligen Zuwege des Lorengleises an den Hängen des Einschnitts zu erkennen: als Terrassierungen.
Um die Veränderung des Bahnhofsgelände Karya zu veranschaulichen, wird die Methode der Re-Photographie eingesetzt. Grundlage sind die historischen Fotos der Baustelle aus dem Album von Andreas Assael. Aus der gleichen Perspektive werden die Orte neu fotografiert. Anschließend werden historisches und aktuelles Bild übereinandergelegt. Mit dieser Methode wird die Veränderung des Ortes deutlich, sie bietet ein „Zeitfenster“ in die Vergangenheit.
Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit Berlin
Britzer Str. 5, 12439 Berlin
05.09.2024 – 30.03.2025
Dienstag – Sonntag 10-18 Uhr
Schließtage
24. und 31. Dezember
Eintritt frei
Benaki-Museum | PIREOS 138
138 Pireos & Andronikou St., 118 54 Athen
17.10.2024 – 16.02.2025
Donnerstag, Sonntag 10-18 Uhr
Freitag, Samstag 10-22 Uhr
Tickets: https://tickets.benaki.org
Begleitprogramm Ausstellung Berlin:
26. September 2024, 18 Uhr | Kurator:innenführung
26. September 2024, 19 Uhr | Geteilte Erinnerung: Deutsche Besatzung in Griechenland
22. Oktober 2024, 18 Uhr | Kurator:innenführung
22. Oktober 2024, 19 Uhr |Zwangsarbeit in Griechenland
27. März 2025, 18 Uhr | Kurator:innenführung
27. März 2025, 19 Uhr | Holocaust in Griechenland: „Restor(y)ing on jewish properties“ (2023)
Öffentliche Führungen:
Deutsch:
Samstag, 07.09.2024, 16 Uhr
Donnerstag, 03.10.2024, 15 Uhr
Sonntags, 13 Uhr am: 15.09., 13.10., 10.11., 19.01., 16.02., 16.03.
Ελληνικά
Σάββατο 07.09.2024, 3 μ.μ.
Κυριακή 08.12.2024, 1 μ.μ.
English:
Sunday, 22.09.2024, 1 pm
Sunday, 27.10.2024, 1 pm
Workshop:
Angebot für Schüler:innen ab der 9. Klasse | Dauer: ca. 3 Stunden
Terminvereinbarung: bildung_ns-zwangsarbeit(at)topographie.de
Karya 1943. Zwangsarbeit und Holocaust ist als Wanderausstellung für 100 qm konzipiert
und dreisprachig (deutsch, griechisch und englisch als Booklet). Sie ist das
Ergebnis einer griechisch-deutschen Kooperation und wurde 2024 im
Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Berlin, eine identische Version im
Kulturhaus des Benaki-Museums in Athen eröffnet.
è SIE MÖCHTEN DIE AUSSTELLUNG AUSLEIHEN?
KONTAKT
Iris Hax,
Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit:
Tel: +49 30 6390 288 13
hax@topographie.de