Karya ist eine kleine Bahnstation in Mittelgriechenland, erbaut 1906/07. 1943 planen die Deutschen in Karya ein Ausweichgleis. Denn die eingleisige Strecke ist überlastet und wird daher ausgebaut. 300 bis 500 jüdische Männer aus Thessaloniki müssen hierfür Zwangsarbeit leisten.
Die Bahnstrecke Athen – Thessaloniki – Belgrad, an der sich Karya befindet, ist für die deutschen Besatzer die wichtigste Verbindung für Transporte von Truppen und Versorgungsgütern. Die Strecke wird daher auch oft von Partisaneneinheiten angegriffen, um die Besatzer zu schwächen. Die Wehrmacht baut das griechische Eisenbahnnetz – dazu gehört Karya – daher aus und beseitigt Sabotageschäden.
Der Bauingenieur Rössler plant das Ausweichgleis. Dazu muss ein tiefer Einschnitt von etwa 20 Metern Tiefe und 100 Metern Länge in einen felsigen Berghang geschlagen werden. So können auf der eingleisigen Bahnstrecke entgegenkommende Züge passieren und mehr Fahrten gleichzeitig erfolgen.
Den Ausbau übernimmt die Organisation Todt (OT). Sie ist die paramilitärische Bautruppe Nazi-Deutschlands und führt während des Zweiten Weltkriegs alle militärisch wichtigen Bauprojekte durch. Bei ihren Vorhaben stützt sich die OT auf private deutsche und österreichische Firmen, die nichtjüdische und jüdische Zwangsarbeiter einsetzen. Die 1928 in Wien gegründete »Überland Hoch-, Tief-, und Straßenbau AG«, eine Tochterfirma der Münchner Firma Leonhard Moll ist eine von ihnen.
Auf den Baustellen in Mittelgriechenland setzt die OT jüdische wie nichtjüdische Zwangsarbeiter ein. Sie müssen Verkehrswege ausbauen und Sabotageschäden beseitigen. Als immer mehr Arbeitskräfte benötigt werden, fordert die OT im März 1943 3.000 jüdische Zwangsarbeiter aus Thessaloniki an. Die SS nimmt daraufhin hunderte jüdische Männer fest und verschleppt sie in die Zwangsarbeitslager von Thiva, Lianokladi und Karya. In Thiva und Lianokladi arbeiten auch nichtjüdische Zwangsarbeiter. Die jüdischen Zwangsarbeiter werden wesentlich schlechter behandelt.
Nach Karya werden Ende März und am 20. April 1943 ausschließlich jüdische Männer verschleppt, insgesamt 300 bis 500. Um die Baustelle an dem weit abgelegenen Ort betreiben zu können, errichtet die OT dort ein Lager: Am Bahnhof für Zugreisende werden zwei Baracken mit Büros und Küche für OT- und Wehrmachtsangehörige gebaut sowie zwei Unterkunftsbaracken für die Zwangsarbeiter. Während der Zwangsarbeit läuft der Bahnverkehr weiter, so dass Fahrgäste die Baustelle und die jüdischen Arbeiter sehen.
Die OT will das Ausweichgleis in Karya so schnell wie möglich fertigstellen und geht dabei rücksichtslos vor: OT-Angehörige und Aufseher treiben die jüdischen Zwangsarbeiter zu harter Arbeit an. In 12-Stundenschichten müssen sie mit Hacken und Schaufeln den Felsen abtragen. Brutale Vorarbeiter und Aufseher prügeln auf sie ein. Sie erhalten wenig Wasser und kaum Nahrung – die noch dazu nicht selten verdorben ist. Die Männer magern innerhalb weniger Wochen ab. Wer erschöpft zusammenbricht, den erschießen die OT-Männer.
Mindestens zehn jüdische Zwangsarbeiter können von der Baustelle in Karya fliehen. Die meisten schließen sich Widerstandsgruppen in der Umgebung an und kämpfen gegen die deutschen Besatzer. Sam Nachmias kann mit Hilfe einer mutigen Familie in Lamia überleben. Über die Geschehnisse in Karya können nur diejenigen berichten, die sich überleben konnten. Ihre Zeugnisse sind heute eine wichtige Quelle.
Anfang August 1943 löst die OT die Baustelle in Karya auf. Die überlebenden Zwangsarbeiter werden nach Thessaloniki zurückgebracht. Am 10. August 1943 transportiert die SS sie nach Auschwitz. Die meisten Männer sind abgemagert und krank. Sie werden kurz nach der Ankunft ermordet. 271 der Verschleppten weist die SS jedoch ins Arbeitslager ein. Im Oktober 1943 werden jüdische KZ-Häftlinge aus Thessaloniki von dort aus in andere Konzentrationslager verschleppt, darunter Überlebende von Karya.