Was sieht man?
Das Foto zeigt Männer auf einer Baustelle. Am linken Bildrand begrenzt ein steiler Berghang das Foto, die Spitze ist nicht zu sehen. Rechts ist ein teilweise abgetragener Hang zu erkennen, in der Mitte eine flache Ebene, die zum Bildhintergrund hin ansteigt. Hier sind Schienen angebracht, auf denen kleine offene Wagen (Loren) fahren. Auf diese wird Bauschutt geladen.
Die meisten Fotografierten leisten schwere Erdarbeiten am Felsen mit Spitzhacke und Schaufel. Sie tragen den Berg ab. Der Blick fällt zuerst auf die Menschen im Vordergrund: Zu sehen sind Arbeiter unterschiedlichen Alters. Auffällig ist, dass die Männer Alltagskleidung tragen, einige haben kurze Hosen oder Mützen, andere sind geschoren, wieder andere haben kurze Haare. Der zweite Mann von rechts ist barfuß, ebenso der Junge ganz rechts. Dieser trägt zerrissene Kleidung und greift mit seiner linken Hand in einen schmalen Behälter, womöglich ist darin etwas zu Essen.
In der Bildmitte links sticht eine Person heraus. Der Mann trägt helle Kleidung, Stiefel und eine längliche Waffe am Gürtel. Er steht hinter zwei Arbeitern und scheint sie zu beaufsichtigen. Der Fotograf steht leicht erhöht rechts, vermutlich auf abgetragenem Gestein. Er blickt auf die Arbeiter vorn im Bild hinab. Zugleich steht er unterhalb der Gesteinsmassen, die durch die Wahl seines Standortes monumental wirken.
Was sieht man nicht?
Das Foto verrät nicht, wer die Arbeiter sind, auch nicht wie viele Stunden sie täglich arbeiten müssen, ob sie unter Hunger, Durst und Hitze leiden. Man sieht die Menge ihrer Essensrationen nicht. Wir erfahren nichts darüber, wie sich der Aufseher gegenüber den Arbeitern verhält.
Der Fotograf ist nicht im Bild. Doch die Wahl seines Standorts sagt Einiges über ihn aus: Er dokumentiert die Größe der Baustelle und den Fortschritt des Projektes, in dem er das Bergmassiv und den Einschnitt aus der Untersicht (Froschperspektive) fotografiert. Dabei nimmt er in Kauf, auch die schwierigen Bedingungen der Arbeiter abzubilden.
Was wissen wir?
Durch rudimentäre Beschriftungen der Fotoserie und insbesondere durch die Forschungen von Andreas Assael, dem Entdecker der Fotosammlung, wissen wir: Das Foto zeigt jüdische Zwangsarbeiter aus Thessaloniki auf der Baustelle in Karya. Wir wissen auch, dass der Fotograf Hanns Rössler ist, der leitende Bauingenieur der Baustelle. Aufgrund der Geländeuntersuchungen der Universität Osnabrück ist bekannt, dass die Männer einen etwa 100 m langen und 20 m tiefen Einschnitt in den Berg hacken müssen.
Es gibt nur wenige Überlebende. Sie berichten, dass es kaum Essen gab, auch, dass sie keine Arbeitskleidung bekamen. Sie mussten ihre eigene Kleidung sowie eigene Schuhe benutzen.
Der hell gekleidete Mann ist vermutlich ein Mitarbeiter der Organisation Todt (OT). Das zeigt die militärähnliche Bekleidung. Er leitet die jüdischen Zwangsarbeiter an und überwacht sie. Überlebende berichten, dass Misshandlungen von deutschen Aufsehern und Mitarbeitern der OT an der Tagesordnung waren. Auch einige Morde an erschöpften und kranken Zwangsarbeitern sind überliefert.
Was wissen wir über den Fotografen?
Hanns Rössler – 1905 in Nürnberg geboren – ist vor dem Krieg beim Autobahnbau in Unterfranken tätig und lernt in einem Forsthaus bei Bad Brückenau seine spätere Frau Hilde (1908–2007) kennen. Die Ehe bleibt kinderlos. Rössler tritt 1930 in die NSDAP ein. Im Krieg wird er auf dem Balkan stationiert und seit 1942 an verschiedenen Orten in Griechenland als Leiter von Baustellen der Organisation Todt tätig, darunter in Karya. Nach dem Krieg ist Rössler bei dem Fränkischen Überlandwerk AG (heute N-Ergie AG) beschäftigt, einem regionalen Stromversorger in Roth. Das Ehepaar Rössler reist viel, so auch nach Griechenland. Bis zu seinem Tod 1995 lebt Rössler mit seiner Frau in einem kleinen Einfamilienhaus in Roth, in der Freiligrathstraße.